Part One
Ben nahm die Scheibe vom Plattenteller, warf sie neben die Hülle auf den Boden und spielte was Neues an. Es waren die Doors.
Tom saß auf dem Teppich und sah auf den verstreuten Haufen von Platten, Hüllen, Büchern, der sich über den Fußboden hin bis fast zur Türe erstreckte.
„Morgen fahre ich noch mal bei den Second-Hand-Läden vorbei“, meinte er und ging die Anzeigenliste für ihr gemeinsames Zeitungsprojekt durch, „dann müßten wir die Ausgabe voll haben.“
Ben stand auf, warf die Doors auf den Boden, legte Janis Joplin auf.
„Die Nummer wird gut.“
Er nahm den Tabak vom Schreibtisch und holte die Papers raus. Dann legte er ihn wieder weg, nahm sich doch noch eine Ernte 23 aus der Schachtel.
Das Telefon klingelte.
„Katja? Ja, nein, du störst nicht.“ Er zündete sich die Zigarette an.
„Tom ist gerade da ... heute Abend, ich weiß noch nicht. Doch, natürlich ...
Hast du den Wagen?“
Tom stand auf, legte die Anzeigenmappen auf den Boden und stellte sich vor die Bücherwand.
'Haben oder Sein' stand da, 'Die philosophische Hintertreppe', viel Existenzialismus, vor allem Camus, daneben die ganzen Schullektüren und viele politische Bücher, Che-Guevara-Biographie, etc.
„Natürlich will ich dich heute Abend sehen.“ Ben blies wütend den Zigarettenrauch an die Decke.
„Ja. Komm doch einfach vorbei. Nein, wir reden nicht nur von der Zeitung. Also, bis heute Abend dann.“
Katja horchte dem Klicken in der Leitung und dem Freizeichen nach. Dann ließ sie den Hörer auf die Gabel gleiten. Im Hintergrund bauten ihre kleinen Schwestern mit Legosteinen.
„Fährst du wieder weg?“ fragte Lucia, die Ältere.
Katja sah sie an.
„Nein, nein, ist schon gut. Spielt ihr nur mal.“ Sie ging an den beiden vorbei und die Treppe hoch und legte sich aufs Bett. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Lucia wieder in der Türe stand.
„Du rauchst ja schon wieder.“
„Mensch, jetzt laßt mich halt in Frieden.“
„Aber Anna hat schon wieder die Burg kaputtgemacht.“
„Lucia, bitte!“
Die Kleine knallte die Türe und lief zurück ins Wohnzimmer.
Tom nahm sich einen Lyrikband aus dem Regal. „Kann ich mir den mal ausleihen? Ich gehe noch in die Rose. Und wie ich Thorsten kenne, ist der sicher wieder zu spät.“
Ben strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Thorsten kommt immer zu spät. Der kann gar nicht anders.“
„Ja, also wir sehen uns dann morgen. Grüß die Katja.“
„Ja, ja.“
Die Rose war eine kleine Gyroskneipe am Romanplatz und Treffpunkt der Gruppe, wenn sie nicht gerade bei Ben im Zimmer saßen.
Thorsten schaute noch schnell bei Thomas vorbei, aber der lag unter dem alten 316i und schweißte die Bodenbleche. Tief in seinem Herzen suchte er nach einer Kombination von Woodstock und Nürburgring. Es war sein siebter BMW, er hatte ihn für ein paar hundert Mark vom Schrottplatz geholt. Ein TÜV war mindestens noch drin.
Von der Straße aus sah man von ihm nur seine Schuhe und die Jeans. Ein Bild wie Marlon Brando. Thorsten fuhr direkt zur Rose weiter.
Tom wartete bereits eine halbe Stunde, als die Tür ging und Thorsten die zwei Stufen hinauf und an der Theke vorbei zum Stammtisch kam.
„Grüß dich, Thorsten.“
„Hallo.“ Er winkte dem Ober. „Einen Kaffee und ein Pittabrot.“
„Ich war eben noch bei Ben. Wir haben noch mal über die neue Ausgabe gesprochen. Ich glaube, die Finanzierung steht jetzt.“
„Ich hab auch noch 'ne halbe Seite geholt. Vom Nachtcafé. Der Typ da war ein ziemliches Arsch. Hat sich das Heft gar nicht angeschaut. Aber die zahlen wenigstens. Nicht so wie Ben's ewiges Dritte-Welt-Zeugs.“
Der Ober brachte den Kaffee und das Brot. Tom brach sich ein Stück ab. Die Kneipe war fast leer.
„Kennst du das?“ fragteThorsten. „Immer wenn ich einen Kaffee trinke, hätte ich gerne ein Spezi und umgekehrt.“
„Man sollte ein Getränk erfinden, das die beiden kombiniert. Hey, wir könnten damit 'ne Menge Kohle machen.“
Thorsten nickte. „Am besten wir machen das gleich in New York. Dann müssen wir da nicht in den Fabriken arbeiten gehen oder so.“
Tom sah auf Thorsten´s zweireihiges Sakko. Der Plan stand schon lange: Gleich nach dem Abi würden sie nach New York gehen, eine Wohnung und Arbeit suchen, etc. Man mußte nur bis 27 dableiben, weil man sonst wegen Fahnenflucht in den Knast kam.
Tom pulte im heißen Kerzenwachs, das, von der Flamme auf die Reise geschickt, über die alte Weinflasche rann. Die roten, weißen, blauen Ströme, die sich über den Flaschenhals ergossen hatten, waren allesamt erstarrte Träume, Gedanken, Redereien. Die Rose war der Ort, an dem Pläne gemacht wurden, wo man auch stundenlang sitzen konnte ohne zu sprechen. Hier wurden Beziehungen diskutiert. Bei Kaffee oder Spezi oder Vino wurde der Grund allen Seins gesucht, während im Hintergrund immer dieselben Sirtakis über Band liefen. Die Rose war der Ort, an dem man die Zeit beobachten konnte, wie sie sich dem Kerzenwachs gleich verhärtete und wuchs, ohne zu vergehen. Tom rieb sich das rote Wachshütchen vom Zeigefinger. 1991.
„Was machen wir heute Abend noch? Gehen wir zu dir?“
„Nein“, sagte Thorsten, „du weißt doch, wie eng es bei mir ist. Außerdem gehen meine Eltern jetzt dann bald schlafen.“
„Weiß ich ja nicht“, antwortete Tom. „Ich war noch nicht bei dir.“
Schweigen. Der Blick in die Kerze.
Thorsten aß den Rest von seinem Pitta, als sich die Türe erneut öffnete. Es schien, als würde für einen Moment an allen Tischen das Gespräch verstummen. Julia kam an den Tisch. Thorsten´s Blick blieb an ihrer großen silbernen Gürtelschnalle haften, tastete dann über das geblümte Top und die Halskette hinauf zu den scharfgeschminkten Lippen und über die Augen seitlich den roten Haaren hinunter. „Niemand kann sich so schönmachen wie du, Julia“, brachte er schließlich seine Gedanken auf den Punkt.
Julia, die ihre Wirkung geduldig abgewartet hatte, zog triumphierend an ihrer Zigarette. „Hier seid ihr also, ihr zwei. Wir gehen heute Abend noch in den Park. So gegen zehn vor dem Schloß.“
Tom bot ihr einen Stuhl an: „Setz dich doch.“
„Nein, ich muß noch mal zu Nina. Wir sehen uns dann.“
Die beiden sahen ihr nach, wie sie an der Theke vorbei die Stufen hinab und aus der Tür glitt.
Thorsten grinste: „Die Julia kriegt immer, was sie will.“
„Na, wir haben ja noch eine gute Stunde bis dahin.“
Tom bestellte sich noch einen Rotwein.